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Weltökonom aus Elberfeld

Hans Singer - ein Wuppertaler im britischen Oberhaus. Mit 22 verließ er seine Heimat, jetzt wurde er 94

In meiner frühen Studienzeit, 1959, stieß ich auf eine Neuerscheinung, von der ich mir dringend benötigte Sinngebung für mein gewähltes Studienfach erhoffte. An den Inhalt des Buches kann ich mich nicht mehr erinnern, aber Titel und Autoren haben sich unvergesslich eingeprägt: 'Die Nationalökonomie im Dienste der Wirtschaftspolitik', von W. A. Jöhr und H.W. Singer.

Sir Hans W. Singer.

Hans Wolfgang Singer wurde im Jahre 1910 als erster Sohn des Arztes Heinrich Singer und seiner Frau Antonia in Elberfeld geboren. Die Familie wohnte in der damaligen Bahnstraße 15 (heute Hoeftstraße). Zwanzig Jahre später besaß der Vater in der Weststr. zwei Häuser; die beide im Krieg zerstört wurden. Hans hatte zwei Geschwister, einen zwei Jahre jüngeren Bruder und einen weiteren, der geistig behindert war und 1930 starb. Er besuchte das Humanistische Gymnasium Elberfeld (heute Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium) – "neun Jahre Latein und sechs Jahre Griechisch, wenig Mathematik, und Geschichte bis 1871" vermerkt die Biographie lakonisch. Die Familie gehörte zum liberalen Judentum, war sozial voll integriert und hoch geachtet.

Mit 19 Jahren ging Hans Singer nach Bonn mit dem vom Vater geprägten Entschluss, Medizin zu studieren. Durch Gespräche mit Kommilitonen neugierig geworden, mogelte er sich in einige Vorlesungen des österreichischen Nationalökonomen Joseph Alois Schumpeter, der ob seines mitreißenden Vortragsstils, seines enzyklopädischen Wissens und seiner Lebensart in Bonn Furore machte. Kurz entschlossen wechselte Singer zur Volkswirtschaftslehre und zu dem bedeutendsten deutschsprachigen Ökonomen des 20 Jahrhunderts.[1] Nach bestandener Diplomprüfung im Jahre 1931 (!) begann er mit einer Dissertation über städtischen Wohnungsbau und Grundstückspreise.

Die produktive Idylle währte indessen nicht lang. 1932 wechselt Schumpeter an die schon damals herausragende Harvard-Universität. Der Vater wird 1933 in einem dubiosen Prozess zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Aufgrund eines schweren Herzleidens eigentlich nicht haftfähig, stirbt er am 17. Dezember in Münster im Gefängnis. Er hatte am 1. Weltkrieg teilgenommen und war mit ruinierter Gesundheit zurückgekehrt. Die Mutter überlebte die Nazizeit und starb 1949.

Hans Singer, damals 22 Jahre alt, verlässt Deutschland 1933 und versucht, in der Türkei Fuß zu fassen, in der zahlreiche hochkarätiger deutscher Wissenschaftler Asyl fanden. In Istanbul erreichte ihn die glückliche Nachricht, dass ihm – durch Vermittlung Schumpeters - ein Stipendium am King's College der Universität Cambridge angeboten werde. Cambridge (England) war seinerzeit das Mekka der Nationalökonomie überhaupt. Dort lehrte der berühmte und auch in Deutschland populäre Nationalökonom John Maynard Keynes.[2] Auf der Reise nach England machte Singer einen kurzen, nicht ungefährlichen Stop in Hildesheim und heiratete innerhalb von drei Tagen seine Braut Ilse Lina Praut, Tochter eines Bankiers, die er in seiner Bonner Studienzeit kennen gelernt hatte.

Im King's College schlugen gerade die Wogen der wissenschaftlichen Diskussion hoch: Singer trat ein in die erregten Diskursrituale um die bevorstehende Publikation von Keynes' Meisterwerk, der "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Geldes und des Zinses", das der Wirtschaftspolitik der nächsten 50 Jahre die Blaupause liefern sollte. Er selbst promovierte daneben mit seiner in Deutschland begonnene Dissertation am 13. Nov. 1936 zum Thema: "Materials for the Study of Urban Ground Rent". Es war der dritte PhD, den die Universität Cambridge im Fach Ökonomie vergab.

Ein anglo-amerikanisches sprachliches Missverständnis, so meinte Singer später selbstironisch, hätte zur Folge gehabt, dass er in den vierziger Jahren zum Mitbegründer einer neuen ökonomischen Teildisziplin avancierte, den 'Development Economics'[3]: Da Singer in England einige Zeit im Ministerium für 'Town and Country Planning' (Stadt- und Regionalplanung) gearbeitet hatte, hätte die UN in ihm einen Experten für 'Development Planning' (Entwicklungsplanung) vermutet und ihm eine entsprechende Stelle angeboten.

Bereits in seiner ersten Aufgabe stieß er auf ein Problem, das seiner Meinung nach die Unterentwicklung maßgeblich mitbestimmte und verstärkte. In empirischen Untersuchungen wies er nach, dass sich die Austauschverhältnisse zwischen den Exporten der Entwicklungsländer – landwirtschaftliche Produkte - und denen der entwickelten Staaten – Industriegüter - im Zeitablauf systematisch zum Nachteil der ersteren veränderten. Anschaulich gesagt: Für einen Mittelklassewagen müssen die Entwicklungsländer ständig steigende Mengen Kaffe bezahlen; der Kaffeepreis bleibt konstant, während die Automobilpreise säkular ansteigen.

Die 'Prebisch-Singer-These' – der lateinamerikanische Ökonom Raul Prebisch war unabhängig von Singer auf diese Regel gestoßen - bildete für die nächsten drei Jahrzehnte die Basis der internationalen Entwicklungspolitik von Weltbank und Vereinten Nationen. Aus ihr wurde gefolgert, dass nicht die Spezialisierung auf Agrarprodukte, sondern nur der Aufbau einer eigenen Industrie den Entwicklungsländern zu steigendem Wohlstand verhelfen könne. Da jedoch die Industrieprodukte zumindest in der Aufbauphase auf dem Weltmarkt qualitativ und preislich nicht wettbewerbsfähig seien, könnten sie nur auf dem Inlandsmarkt abgesetzt werden. Importe aus den Industrieländern müssten deshalb für eine Übergangszeit mit hohen Schutzzöllen abgewehrt werden. Man bezeichnete das Konzept als 'Importsubstitutionspolitik'.

Die 'Prebisch-Singer These' gilt immer noch als empirisch zutreffend; allerdings ist die Industrialisierung der Entwicklungsländer heute von Anbeginn an mit einer stärkeren Exportorientierung verbunden.

Im Jahre 1969 verließ Singer die Vereinten Nationen und ging als Fellow an das gerade gegründete Institute of Development Studies' der Universität Sussex, gleichzeitig wurde er Professor an der dortigen Universität. Er setzte in vielfältigen Funktionen seine fruchtbare Arbeit fort. Immer galt dabei seine Sorge den Armen dieser Welt, den Kindern und den Hungernden, und der Frage, welche Institutionen notwendig sind, um deren Lebenslage zu verbessern.

In den achtziger Jahren traf unser inzwischen verstorbener Kollege Bernd Biervert Hans Singer auf einer internationalen Konferenz. Er hatte Deutschland nach dem 2. Weltkrieg gemieden, erklärte sich jedoch bereit, eine Einladung unseres Fachbereiches anzunehmen und Vorträge vor Studenten zu halten. Es war für beide Seiten eine bewegende Begegnung. Hans Singer sah mit eigenen Augen, (was er natürlich wusste), dass auch das Geburtshaus und die Umgebung seiner Kindheit nicht mehr existierten.

1994 wurde Hans Singer von der britischen Königin in den Adelsstand erhoben. Nach 67-jähriger Ehe, aus der zwei Söhne hervorgingen, starb seine Frau am 3. März 2001.

Am 29. November wird Sir Hans W. Singer 94 Jahre alt.

Literatur:
D. John Shaw, 'Sir Hans Singer: The Life and Work of an Development Economist', Palgrave Macmillan, Houndmills u.a., 2002.

Weitere Informationen über Sir Hans Singer (in englischer Sprache) finden Sie hier.


[1]  Schumpeter wird häufig in einem Atemzug mit Marx und Keynes genannt, und er hat im Unterschied zu den beiden anderen seine Aktualität bis heute nicht eingebüßt. Bereits in seinem mit 28 Jahren geschriebenen Frühwerk "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" (1912) führte er die zentrale Kategorie der "Neuerung" ein, die, ins Englische übersetzt und später reimportiert und verballhornt, als "Innovation" heute die Sprechblasen aller ökonomischen Kleingeister füllt.

Singer's zweiter akademischer Lehrer war Arthur Spiethoff, der damals führende deutsche Konjunkturtheoretiker.

[2] Keynes war einer breiteren Öffentlichkeit als entschiedener Kritiker der hohen deutschen Reparationszahlungen bekannt geworden, deren schädliche Auswirkungen er nachwies.

[3] Es gibt für diesen Terminus keine griffige deutsche Übersetzung. Man müsste eigentlich sagen: 'Ökonomische Theorie der Entwicklungspolitik'.

Autor: Günter Schiller

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